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Historisches Hintergrundwissen

19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg

Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert erlebt die jüdische Bevölkerung durch die Ideen der Aufklärung bedeutende gesellschaftliche Veränderungen. Die rechtliche Gleichstellung gelingt allerdings erst 1871 mit dem Beitritt Bayerns zum Deutschen Kaiserreich.

Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert erlebt die jüdische Bevölkerung bedeutende gesellschaftliche Veränderungen. Die Aufklärung fördert eine liberalere Haltung eines Teils der christlichen Mehrheitsgesellschaft gegenüber Jüdinnen und Juden. Gleichzeitig tritt die Haskala, die jüdische Aufklärung, unter dem maßgeblichen Einfluss von Moses Mendelssohn für eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe der jüdischen Bevölkerung ein und befürwortet eine Öffnung gegenüber weltlicher Bildung. In Bayern verbreiten sich diese Ideen jedoch nur zögerlich, am ehesten in den großen Gemeinden wie Regensburg und Würzburg, während vor allem die Landrabbiner und die bedeutende jüdische Gemeinde Fürth an einer konservativen und traditionsorientierten Glaubensauslegung festhalten. 

Der Anteil der jüdischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung beläuft sich Ende des 18. Jahrhunderts in einigen Ortschaften Frankens und Schwabens auf 30 bis 40 Prozent. Um 1800 stellen Juden in Demmelsdorf oder Kriegshaber sogar den überwiegenden Teil der Bevölkerung. Insbesondere in Schwaben etablieren sich größere jüdische Gemeinden, die zum Teil eindrucksvolle Synagogen errichteten, um ihr religiöses Selbstbewusstsein zu dokumentieren und ihren Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe zu unterstreichen.

Die rechtliche Situation jüdischer Bürger verändert sich erst im Laufe des 19 Jahrhunderts schrittweise: Ab 1804 wird jüdischen Kindern der Zugang zu öffentlichen Schulen gestattet, ab 1805 wird das 1553 erlassene Ansiedlungsverbot für Juden in Altbayern aufgehoben. Im Zuge der Eingliederung der fränkischen und schwäbischen Gebiete in das 1806 gegründete Königreich Bayern leben plötzlich wieder mehr als 50.000 Juden auf bayerischem Gebiet. Im Jahr 1807 wird der als besonders diskriminierend empfundene Leibzoll abgeschafft und die Militärpflicht eingeführt. 

Das am 10. Juni 1813 von König Max Joseph erlassene „Edikt über die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Königreiche Baiern“ gewährt der jüdischen Bevölkerung schließlich die ersten Bürgerrechte und die Möglichkeit, die bayerische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Berufsbeschränkungen werden aufgehoben, Rechtssicherheit und freie Glaubensausübung garantiert. Aber gleichzeitig schränkt der sogenannte „Matrikelparagraph“ des Judenedikts die Bewegungsfreiheit und die Erwerbsmöglichkeiten der Juden stark ein. Als diskriminierend werden von den jüdischen Gemeinden auch die erheblichen Eingriffe in die eigene Autonomie empfunden.  Diese Restriktionen führen zu Auswanderungsbewegungen in die USA und nach Osteuropa und verhindern noch die vollständige Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung in Bayern. Auch die „Hep-Hep-Unruhen“ von 1819, gewalttätige Ausschreitungen gegen Juden v. a. in Franken, ausgelöst durch christliche Händler und Handwerker, die die wirtschaftliche Konkurrenz jüdischer Kaufleute fürchten, führen zu Rückschlägen in der jüdischen Emanzipation in Bayern.

Die Urbanisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führt schließlich zu einem Wachstum der jüdischen Gemeinden in Städten wie München, Nürnberg und Regensburg, während die jüdische Bevölkerung auf dem Land – auch wegen der vermehrten Auswanderungsbewegungen – zu schrumpfen beginnt. 

Trotz des Kampfes der ersten jüdischen Landtagsabgeordneten im Königreich Bayern, David Morgenstern und Fischel Arnheim, erfolgt die rechtliche Gleichstellung der bayerisch-jüdischen Bevölkerung erst 1871 mit dem Beitritt Bayerns zum Deutschen Kaiserreich. Zumindest die rechtliche Emanzipation der jüdischen Minderheit ist damit formal abgeschlossen. 

Dennoch kommt es weiterhin zu gesellschaftlichen Diskriminierungen der Jüdinnen und Juden, beispielsweise bei der Besetzung von Ämtern und anderen staatlichen Stellen. Zudem verfestigt sich ab den 1870er Jahre vor allem in völkischen Bewegungen ein rassistischer Antisemitismus, nach dessen Ideologie alle Juden als von Natur aus minderwertig gelten.

Gleichzeitig zeugen v. a. in den Städten Synagogenbauten und eine rege kulturelle Beteiligung jüdischer Bürger am gesellschaftlichen Leben in Bayern von ihrem wachsenden Selbstbewusstsein. So verstehen sich die meisten jüdischen Bürger als vergleichsweise konservative deutsche bzw. bayerische Staatsbürger und distanzieren sich von gleichzeitig entstehenden Ideen des Sozialismus wie des Zionismus. 

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) stellt für viele Juden eine Gelegenheit dar, endgültig ihre Loyalität zum Vaterland zu beweisen. Eine „Judenzählung“ im Jahr 1916, die die Zahlen der kriegstauglichen, an der Front dienenden, unabkömmlich gemeldeten, zurückgestellten und gefallenen jüdischen Wehrpflichtigen ermitteln sollte, zeugt jedoch vom Antisemitismus im deutschen Offizierskorps und dem von antisemitischen Verbänden, Parteien und Medien geschürten Propagandabild des jüdischen „Drückebergers“. Dies erweist sich später als haltlose Polemik. Einen ersten Höhepunkt erfährt der Antisemitismus im 20. Jahrhundert schließlich im Verschwörungsnarrativ zur deutschen Niederlage, der sogenannten „Dolchstoßlegende“: Das deutsche Heer sei im Feld ungeschlagen geblieben und von oppositionellen, insbesondere jüdischen „Vaterlandsverrätern“ von hinten „erdolcht“ worden, indem sie den Versailler Vertrag unterschrieben und dessen Auflagen und insbesondere den Kriegsschuldparagraphen akzeptiert hätten. Diese antisemitische Verschwörungserzählung trifft in Bayern auf große Resonanz. 

Quelle: Karin Eben/Kristina Milz - Jüdisches Leben in Bayern - Haus der Bayerischen Geschichte